Am 31. Januar 1945 überschritt die Rote Armee mit ihren Truppen die Oder. In unserer Region entbrannte eine Schlacht, die sich fast ein Vierteljahr hinzog. Es waren die schwersten Kämpfe dieses Krieges, die auf deutschem Boden tobten. Die Menschen, die hier lebten, flohen vor dem Inferno oder sollten als letztes Aufgebot verheizt werden.
Die Zeitzeugen aber, die sich an diese schwere Zeit noch erinnern können, werden immer weniger. Wir möchten deren Geschichte festhalten und auf die letzten Monate des Zweiten Weltkrieges zurückschauen. Wir wollen Menschen zu Wort kommen lassen, die Kämpfe, Flucht, Vertreibung und Befreiung miterlebt haben, wie Marie-Luise Jakob aus Libbenichen und Heinz Mutschinski aus Zeuthen. (MOZ)
Für viele Deutsche war der Krieg lange Zeit fern. Die bitteren Erinnerungen betreffen meist eher die letzten Monate vor der Kapitulation und die Zeit danach. Zwischen 1939 und 1944 war es ein normales Leben, das die Deutschen führen konnten. Die veränderte Lage an den Kriegsfronten machte sich bemerkbar, als Lebensmittel reglementiert wurden. Und als immer häufiger Mitteilungen eintrafen, dass der Vater, dass der Bruder, der Sohn oder Ehemann gefallen ist. Polen verwundern solche Darstellungen. Für sie waren alle Kriegsjahre traumatisch. Der zumeist friedliche Alltag der Deutschen stand den schlimmsten Erlebnissen der Polen und anderer Nationen gegenüber: Konzentrationslager, Zwangsarbeit, Massenerschießungen, Vertreibung. Später wurden auch die Deutschen vertrieben, sie litten unter Hunger und Kälte. In einem Aufsatz von Beata Halicka „Das Zäsurjahr 1945“ äußert die Wissenschaftlerin der Europa-Universität Frankfurt ihre Verwunderung über die Erinnerungen der Deutschen. (MOZ)
Seit dem 18. Januar 1945 nähert sich eine Vorausabteilung der 5. Stoßarmee unter dem Kommando von Gardeoberst Jesepenko dem Ostufer der Oder. Am 29. Januar hat sie bei den Kämpfen um Landsberg (Warthe) empfindliche Verluste erlitten. Teile dieser Vorausabteilung erreichen am 31. Januar in den frühen Morgenstunden gegen 6 Uhr die Oder bei Kienitz. Da das Eis das Übersetzen von Panzern nicht erlaubt, überschreiten zwei Infanteriebataillone mit rund 400 Mann den Fluss. Der rasche Vormarsch der Roten Armee überrascht die deutsche Wehrmacht, sie ist darauf nicht vorbereitet. Ohne auf Widerstand zu stoßen, bilden die Sowjets den ersten Brückenkopf am Westufer.
Ein Brückenkopf ist eine militärische Stellung auf feindlichem Gebiet, ein erkämpfter Freiraum, um Nachschub an Waffen und Soldaten zu erleichtern. Die Landung der sowjetischen Truppen geschieht für die Dorfbewohner in Kienitz und die wenigen dort weilenden Wehrmachtsangehörigen vollkommen überraschend. Die 13 Offiziere und 63 Fahnenjunker einer Luftabwehrschule geraten in ihren 85-Millimeter-Beute-Flakgeschützen ohne Gegenwehr in Gefangenschaft. Für die 57 im Ort befindlichen sowjetischen Kriegsgefangenen ist der lang ersehnte Augenblick der Freiheit gekommen. Gegen Mittag verstärkt die Vorausabteilung der 94. Gardeschützendivision den Brückenkopf der Roten Armee. Am Abend umfasst das eingenommene Gebiet eine Breite von vier und eine Tiefe von zwei Kilometern. Kienitz ist zwei Monate später größtenteils zerstört, die Dorfbewohner fliehen in Richtung Osten. Dramatisch wird die Situation für Flüchtlinge aus Schlesien, die in Booten im Hafen in Kienitz ausharren. Sie hat das Eis eingeschlossen. Die Boote werden bei Angriffen auf den Brückenkopf von deutschen Sturzkampfbombern zerstört, viele Flüchtlinge sterben.
Am gleichen Tag kommt es zur Bildung weiterer Brückenköpfe. Etwa gegen 8 Uhr erreicht ein sowjetisches Panzerbataillon der 2. Gardepanzerarmee die Oder. Auf der Suche nach Übersetzmöglichkeiten drehen die Panzer in südliche Richtung ab. Dieser Vorstoß findet etwa 600 Meter nördlich der Küstriner Warthebrücke ein jähes Ende. Artilleristen der 25. Panzergrenadierdivision der deutschen Wehrmacht, die kurz zuvor auf dem Küstriner Bahnhof entladen worden sind, schießen mit Panzerfäusten zwei Sherman- und einen Valentine-Panzer der Sowjets ab.
Bis zum Abend setzen zwei sowjetische Infanteriebataillone des 1. Mechanisierten Korps bei Kalenzig über die Oder und nehmen in der Folgezeit den Kampf um Genschmar im Oderbruch auf. Gegen Abend treffen die ersten deutschen Wehrmachtseinheiten im Kampfgebiet ein. Dabei handelt es sich um eine Alarmeinheit aus Berlin und ein Infanteriebataillon aus Küstrin, die zur Kampfgruppe Weikl zusammengefasst werden. An diesem Tag erreichen auch deutsche Militärzüge das Oderbruch. Die deutschen Einheiten der 25. Panzergrenadierdivision und die wenige Tage später eintreffenden Truppen der 21. Panzerdivision werden eilig von der Westfront an die Ostfront verlegt, um den durchgebrochenen Feind bei Posen östlich der Oder zu stoppen. Als sie eintreffen, steht der Gegner bereits westlich der Oder und es gilt, sofort in den Kampf einzutreten. Damit wird das Oderbruch für zweieinhalb Monate zum Kampffeld vor den Toren Berlins – und die Zerstörung einer einzigartigen Kulturlandschaft beginnt. Für die deutschen Soldaten gilt es, die sowjetischen Einheiten zu zerschlagen und sie wieder über die Oder zu treiben. Für die Rotarmisten gibt es nur eine Devise: Keinen Schritt zurück, denn die Brückenköpfe gelten als Ausgangsraum für den geplanten Sturm auf Berlin. (MOZ)
Heinz Mutschinski hat die Hölle überlebt. Und obwohl er einer der Zwei von 30 Soldaten seiner Stoßtruppe war, der bei Klessin im nasskalten Lehmboden lag und ein Inferno überlebte, weint er nicht um sich und die Toten. Es waren einfach zu viele. Nein, wenn er das Grauen dieser eisigkalten Nächte beschreibt, wird er eher wütend. „Viele von uns waren keine ausgebildeten Soldaten, es waren junge Männer, die dort das erste Mal eine Waffe in der Hand hatten“, erzählt der 89-Jährige. Sie wurden in den Tod geschickt. Getrieben von dem Wahn eines Mannes, eines Oberbefehlshabers, der sich der Realität verweigerte.
Und dann, nach zwei Stunden Reden, nach zwei Stunden Blut, Granaten und Bombenhagel, kommen doch die Tränen. Es ist die Erinnerung daran, als Heinz Mutschinski in französischer Gefangenschaft wochenlang auf Nachricht seiner Lieben wartet. „Es war für mich eigentlich klar, dass mein Vater, meine Mutter, meine Schwester nicht mehr leben konnten“, sagt er. Und dann, eines Tages, wird sein Name aufgerufen. MUTSCHINSKI? An diesen Augenblick kann er sich noch gut erinnern, alle haben sie überlebt, ein Glück, ein unfassbares Glück. Sein Vater berichtet auf der Karte, dass sie leben und was sie machen. Er hat noch Heimat und Familie, als er aus der Gefangenschaft entlassen wird. „Ich habe die Postkarte noch da, und auch die Tränen darauf sind noch zu sehen“, erzählt Heinz Mutschinski und reibt sich die Augen mit beiden Händen.
Mutschinskis Weg durch den Vernichtungskrieg war denen der anderen sehr ähnlich, der Hunderttausenden deutschen Soldaten. Heinz Mutschinski wurde in Fürstenberg an der Oder geboren. In Frankfurt an der Oder leistete er Arbeitsdienst, an der Oder kämpfte er ums Überleben. „Die Oder ist mein Schicksalsfluss“, sagt er heute. Die Einberufung zum Kriegsdienst: „Damit stand man schon mit einem Bein im Grab.“ Das, was der junge Soldat in seiner Jugend durchgemacht hat, reicht nicht allein für ein oder zwei Leben. In jedem durchgestandenen Monat steckt eine Geschichte, eine Lehre für Generationen. „Ach, ich könnte stundenlang reden“, sagt er und reißt immer wieder Themen an, hinter denen sich mehr verbirgt. Er ist ein Zeitzeuge aus Überzeugung. „Das hält mich wach, ich muss anderen berichten, wie es ist, wenn Krieg ist.“
Ein junger Soldat unter vielen, stationiert auch in der Ukraine und in Rumänien. Er bekam von anderen Offizieren mit, wenn sie morgens zu Erschießungskommandos gerufen wurden. Er lief mit Kameraden an Bahnwaggons gefüllt mit Menschen entlang, die um Wasser flehten. „Wir wurden davon abgehalten, ihnen etwas zu geben, sie hätten uns sofort am nächsten Baum aufgeknüpft.“ Fliehen? Weglaufen? Wohin denn? „Die hingen doch überall an den Bäumen, zwischen Manschnow und Seelow, als Mahnung.“ Dass der Krieg 1944 verloren war, das war ihm selbst als kleines Rädchen im großen Kriegsgetriebe klar. „Es gab keine Front mehr, die Verantwortlichen waren mit ihren Wagen aus den Ortschaften geflohen.“ Die Zivilbevölkerung musste viel zu lange aushalten, um zu beweisen, dass der Krieg noch nicht verloren sei. „Wenn die Rote Armee bei Kietz über die Brücke allein als Musikkapelle hinübergekommen wäre, niemand hätte sie dort aufgehalten.“
Fällt Klessin, fällt Berlin , soll Hitler gesagt haben und hat damit das kleine Dorf an der Oderbruch-Kante zur Festung gemacht. Von dieser Festung bleiben am Ende nur Ruinen, Schutt und Asche – und Tausende Tote auf allen Seiten.
Erinnerungen sind wie Fäden. Mal bunt, mal grau, mal nahezu durchscheinend. Sie sind verschieden dick, lösen sich und verheddern sich auch mal. Oder verbinden sich mit anderen. „Wenn meine Schwestern erzählen, wie es damals kurz nach dem Krieg war, dann ist es irgendwie anders“, sagt Marie-Luise Jakob. Sie meint damit: eine andere Perspektive, eine andere Einschätzung der Lage. Die heute 78-Jährige ist mit vier Schwestern und einem Bruder in Libbenichen aufgewachsen. Das Dorf zwischen Lebus und Seelow in Märkisch-Oderland liegt direkt an der Oderbruch-Kante. Auf einem Hof mit Gutshaus, etwas außerhalb vom Dorf gelegen, erlebte Marie-Luise Jakob als Neunjährige die Nachwehen des Krieges. Hunger, großen Hunger, dieses Gefühl kann sie nicht vergessen. Genauso wenig wie die Angst vor Plünderern. Und doch, da ist noch ein anderes Gefühl zwischen den Tränen und dem Leid. Es ist die Bewunderung für ihre Mutter, die sechs Kinder durch die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts geschleust hat. Ihr Vater, erst im Krieg und dann bis 1950 in Gefangenschaft, konnte wenig helfen. Und so war es an der alleinerziehenden Frau, ihren Nachwuchs auf der Flucht vor der sowjetischen Armee in Richtung Petershagen bei Berlin zu schützen und später, zurückgekehrt im ausgebombten Haus, durch die Hungersnot zu bringen. Und nicht nur das.
Überall lagen tote Menschen. Die Häuser waren von Granaten und Bomben teils völlig zerstört. Minen lagen auf den Äckern. Aufgrund der mangelnden Hygiene kam es zu Epidemien. „Ab Mitte Juni 1945 zeigten sich bei vielen Schwäche, Unlust zur Trümmerbeseitigung und erste Krankheitssymptome, die sich in Appetitlosigkeit, Durchfall und teilweise Fieber äußerten… Medikamente und ärztliche Versorgung gab es überwiegend nicht“, schreibt Horst Rambusch in seinem Buch „Erster Oderbrückenkopf 1945 und die Folgen für die Bevölkerung“. Größtenteils blieben Marie-Luise Jakob und ihre Geschwister von Krankheiten jedoch verschont. „Auch Läuse hatten wir keine“, erzählt sie. Denn auch wenn es nachts oft unheimlich war, auf dem vom Dorf entfernten Landgut, die Entfernung zu anderen Menschen war in dieser Situation wohl vorteilhaft gewesen.
„Aber wenn wir nicht mehr wollen: dann gibt es nie wieder Krieg!“
– Kurt Tucholsky, Juli 1921
Geschichten weiterer Zeitzeugen finden Sie hier: www.moz.de/themen/1945.
Man könne ja nicht alles in sich hineinfressen, sagt Heinz Mutschinski auf die Frage, warum er über seine Erlebnisse redet – und soviele andere seiner Generation lieber schweigen. „Jeder geht damit anders um.“ Für ihn gehört das Reden zur Therapie. Und wo könnte er seine Erlebnisse besser verarbeiten als am Schauplatz selbst? Jedes Jahr ist er in Klessin dabei, wenn Ehrenamtler die Gebeine der toten Soldaten aus dem Oderbruch-Boden bergen. Unterschiede zwischen den Nationen wird nicht gemacht. Man könnte fast sagen, diese Aktionen dienen der Völkerverständigung. Mutschinski hilft dabei. Doch er nimmt dem Boden nicht nur etwas. Er gibt auch. „Ich verstreue dort Scilla- und Vergissmeinnicht-Samen aus meinem Garten in Zeuthen. Die blühen im Frühjahr, als Ehre für die Toten – und als Mahnung.“
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Chefredakteur Frank Mangelsdorf
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Gedenkstätte Seelower Höhen
Zeitzeugen
Heinz Mutschinski, Zeuthen; Marie-Luise Jakob, Libbenichen
Technische Umsetzung
Jan Dalk
Literatur
*Das Kriegsende 1945 – Berichte, Ereignisse und Aufzeichnungen von den Kämpfen um die Seelower Höhen (Gerd-Ulrich Herrmann) *Erster Oderbrückenkopf 1945 und die Folgen für die Bevölkerung (Horst Rambusch) *Schwierige Nachbarn? 300 Jahren deutsch-polnische Nachbarschaft – Groß Neuendorfer Grenzgespräche 2006, Vorträge und Diskussionen (Wolfgang Michalka und Reinhard Schmook als Hrsg.)